Antwort aus autistischer Sicht
Hallo,
dann melde ich mich als Autist (Asperger-Syndrom bei mir diagnostiziert) auch mal zu Wort.
Ich will das hier Geschriebene nämlich definitiv nicht unkommentiert stehen bleiben sehen ("stehen lassen").
- Autismus ist keine Krankheit, sondern eine vollkommen natürliche Personeneigenschaft. (Homosexualität ist ja auch trotz Normabweichung keine Krankheit - oder besser ausgedrückt, wird nicht mehr als solche gesehen. Denn die Krankheitsdefinition ist vollkommen unwissenschaftlich und überaus willkürlich.)
- Die Ursache von Autismus ist zurzeit ebenso ungeklärt wie es die Ursachen von Linkshändigkeit oder Homosexualität sind. In allen drei Fällen ist es sehr wahrscheinlich, dass es genetisch bedingt ist. Warum man die Frage beinahe ausschließlich in Bezug auf Autismus stellt, scheint unklar. Der Grund dafür werden gesellschaftliche Bedingungen sein: Bei Autismus ist man leider noch nicht so weit.
- Autismus ist aber kein Defekt, s. o. (Vergleichsfrage: Ist Homosexualität ein Gendefekt?)
- Autismus ist keine Wahrnehmungsstörung. Autisten und Nichtautisten nehmen die Welt unterschiedlich wahr, aber der Begriff "Störung" geht davon aus, dass nichtautistische Wahrnehmung automatisch besser wäre, was völlig falsch ist.
- Autisten sind keineswegs nervig, das ist Blödsinn. Ich bin als Kind eher still und zurückhaltend gewesen.
- Wird ein Autist "aggressiv", so liegt die Ursache dafür nicht beim Autisten, sondern an Umständen, die seine Empfindsamkeit erheblich beeinträchtigen. Das kann z. B. eine enorme Angst vor einer Spritze beim Arzt sein, oder es können Sinnesreize sein (bei mir z. B. v. a. visuelle und akustische; auf Gerüche reagiere ich dafür sehr unempfindlich - das ist aber natürlich bei jedem anders).
- Was hat ein Autist in einem Wohnheim zu suchen? gehört da definitiv nicht hin - evtl. ein Problem einer (zu) frühen Diagnose (besonders @Tavor)
- Zur Aussage "Autisten können lernen": Was soll das denn bitteschön?! Natürlich können Autisten lernen, wieso sollten sie das nicht können. Ich habe das Abitur, dafür musste ich lernen. (Ich hätte auch beinahe einen Studienabschluss geschafft.) Auch Autisten fliegt nichts zu, aber dass "Autisten lernen können" überhaupt betonen meinen zu müssen, zeigt doch schon eine völlig falsche Defizitsicht auf Autismus.
Autisten lernen auch nicht grundsätzlich langsamer. Wenn einen Autisten etwas interessiert, kann er sehr schnell lernen. Die meisten Dinge, die man für die Schule lernen muss, sind aber uninteressant und vollkommen unnütz an sich, sie werden lediglich für das Abschlussziel gebraucht. Insgesamt denke ich, dass Autisten eher gründlicher lernen als andere und dadurch ein vollständigeres Verständnis an einer Sache entwickeln. (besonders @Aruna)
- Es gibt genug Autisten, die Therapien ablehnen. Warum man den Reitunterricht bei Autisten Therapie nennen muss, ist völlig unklar. Bzw. klar, hat wieder gesellschaftliche Gründe. Nichtautistische Kinder gehen ihrem Interesse für Pferde nach, und autistische werden nicht nach ihrem Interesse gefragt, sondern aufs Pferd gezwungen. Und dann wundern sich meine Eltern, dass diese Qual "auch nichts hilft". Therapie folgt auf Therapie, sehr häufig, bis der Autist völlig kaputttherapiert ist. Ich kann nur sagen, zum Glück musste ich kein ABA durchmachen. Auch die Delfintherapie blieb mir erspart. ABA schadet Autisten nachweislich (viele bekommen davon eine PTBS), für die Delfintherapie werden Tiere gequält. Derartiges finanziert man am besten gar nicht mehr.
Krankengymnastik, Heileurythmie, Psychokinesiologie und Wahrnehmungstherapie musste ich dann aber leider doch über mich ergehen lassen.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn man Autisten nicht mehr in Therapien zwingt, die meistens vollkommen unnütz sind und ausschließlich der Angehörigenbefriedigung dienen.
Das heißt nicht, dass Therapien nicht sinnvoll sein können, aus meiner Sicht jedenfalls. Auch das sehen aber viele andere Autisten anders. Wenn die Therapie tatsächlich hilft, die eigene Art anzunehmen und das Selbstbewusstsein zu stärken, so sollte man sie meiner Meinung nach machen. Das gilt für Autisten selbstverständlich ebenso wie für Homosexuelle, Linkshänder oder auch alle anderen Menschen. Häufig jedoch zielen Therapien auf Umerziehung(sversuche), die zu vermeiden und zu verhindern sind.
- Die Autismus-Spektrum-Theorie geht in der Tat davon aus, dass Autismus eine Eigenschaft ist, die jeder Mensch in sich trägt, sie nur bei manchen Menschen eben besonders ausgeprägt ist.
- Dass Autisten anstrengend sind, ist überhaupt kein Fakt, sondern absoluter Blödsinn. In Wahrheit sind Nichtautisten die anstrengenden.
Genau so liegen die Kommunikationseinschränkungen nicht bei den Autisten, sondern bei der nichtautistischen Mehrheit. Das kann man mit etwas Vernunft schnell erkennen. Denn Nichtautisten sind nicht fähig, vernünftig und sachlich zu kommunizieren.
Ebenso mit den angeblichen "Defiziten" in Interessenwahrnehmung oder sozialer Interaktion (vgl. Diagnosetext). Da wird von einer Norm ausgegangen, die, nur weil sie normativ für gültig erklärt wurde, als einzig wahre und richtige gilt. Einen derartigen alleinigen Wahrheitsanspruch findet man sonst nur bei Jehovas Zeugen und vergleichbaren Sekten, aber da die Nichtautistensekte groß genug ist und eine Mehrheit bildet (im Gegensatz zu Minderheiten wie den "Zeugen"), nimmt kaum jemand Anstoß daran.
- Nichtautistisch geprägte Lebensumstände und Umgebungen sind für Autisten besonders belastend. (Hier könnte man übrigens auch mit Recht "nervig" schreiben.)
Mich nervt es enorm, dass immerzu für alles die alleinige Schuld beim Autisten gesucht und gefunden wird. Dass niemand sich mal selbst kritisch fragt, ob er für Verhaltensweisen bei anderen verantwortlich sein könnte.
@aruaL92: Warum in die Lage der Angehörigen? Warum nicht in die Lage des Autisten?
Lieben Gruß,
ein anonymer Asperger-Autist
P.S.: In diesem Beitrag verwende ich aus sprachlichen Vereinfachungsgründen das generische Maskulinum. Selbstverständlich sind auch (Nicht-)Autistinnen ebenso gemeint.