Kann ich sehr gut nachvollziehen
Hallo,
seit 8 Jahren kämpfe ich mit Ordnungs-, Kontroll- und Zählzwängen. Am Schlimmsten wurde es jedoch vor 3 Jahren, als ich (damals 25) meine erste eigene Wohnung bezog. Jeden Handgriff selber machen und dazu noch etliche Male nachkontrollieren. Nicht nur zuhause, sondern auch im Büro. Quälende Gedanken, Nervosität, Anspannung, innere Unruhe, bevor nicht alles nochmal überprüft wurde. Gedanklich oder in natura. Dazu der enorme Zeitaufwand. Es folgte ein Jahr der Depressionen bis hin zu Suizidgedanken (sogar einen langen Abschiedsbrief hatte ich bereits fertig verfasst), bis mich ein Arbeitskollege "auffing" und mir Johanniskrauttabletten empfahl (nicht gegen die Krankheit an sich, aber um den Depressionen zu entfliehen). Meine Gedanken wurden klarer, und ich konnte anfangen, selbst meine Rituale und Zwänge zu optimieren (soll heißen, leichter damit zurechtzukommen z.B. die Küchenrolle auf den Tisch zu stellen und nicht im hintersten Winkel des Schranks zu deponieren, wo ich dann den gesamten Inhalt abzählen muss). Ich näherte mich ganz langsam einem "normalen" Leben.
Ich fing auch gezielt an, meiner Familie, Freunden und den Arbeitskollegen meines Vertrauens unter 4 Augen davon zu erzählen. Das war keineswegs einfach, aber der 2. große Schritt (der 1. war, sich einzugestehen, dass das eigene Verhalten jegliche Norm längst überschritten und daher krankhaft ist) gewesen. Für ein Weiterkommen war und ist es aber unerlässlich. Es ist bei mir auch nicht einfacher geworden, darüber ganz von vorne zu erzählen.
Das Optimieren ging 2 Jahre gut, doch dann wurden die Rituale austauschbar. Was ich mir auf der einen Seite leichter machen konnte, führte zu einem neuen Ritual auf der anderen. Ich sah kein Potential mehr, selbst was machen zu können. Der letzte Ausweg (was mir von Anfang an sowieso klar war) liegt in einer Therapie.
Vor etwa 4 Monaten begann ich eine Verhaltstherapie. Ich fühlte mich beim Therapeuten sofort wohl und erzählte ungehemmt drauflos. Vielleicht, weil ich vielen Anderen davor schon erzählt hatte. Mittlerweile habe ich 14 Sitzungen hinter mir und fühle mich sehr gut. Ich hatte zwischendurch zwar auch das Gefühl, mit den Kräften vollkommen am Ende zu sein (musste sogar eine Urlaubswoche nehmen, es ging einfach nicht mehr), aber wir haben die Ursachen (Stress durch Überforderung, Aufopferung für Andere, Zeitdruck, familiäre Konflikte) in der Therapie besprochen und soweit mal ausgemerzt. Jetzt konzentrieren wir uns wieder auf die Zwänge und sind gerade bei den Expositionsübungen (das "Aushalten" einer Situation, ohne Rituale abzuarbeiten), welche am allerschwersten sind und ich in nächster Zeit regelmäßig üben werde. Aber die ganze Therapie ist nicht einfach. Wenn man zwecks Ursachenforschung seine ganze Vergangenheit nochmals durchgehen muss... Ja, ich habe Angst davor. Angst, es nicht zu schaffen. Nicht aus den Zwängen rauszukommen. Und momentan fühle ich mich traurig. Einen langen, oftmals aussichtslos scheinenden Kampf kämpfen zu müssen, der an der Substanz zehrt und mich oft zu verschlingen droht. Ich kämpfe schon lange, ich hatte Erfolge, und oft auch Rückschläge, Höhen und Tiefen. Ich freue mich über jeden Schritt in Richtung zwangfreies Leben, und trotzdem sehe ich oft die Erfolge nicht, sondern nur die Hindernisse, die noch zu bewältigen sind. Und sie sind zahlreich. Ich kann mich auch nicht hinstellen und sagen: "Ich schaffe das 100%-ig!" Ich kann nur meinen Mut zusammennehmen und weiterkämpfen. Konfrontation mit dem "Feind"...
Es tut mir leid, falls mein Beitrag den Rahmen sprengt. Oder ich mit manchen Details oder Erfahrungen vielleicht jemandem Angst mache. Das war und ist nicht meine Absicht. Ich will aber auch nichts schönreden. Es ist viel Arbeit und Überwindung notwendig, vorwärts zu kommen. Und vor allem Geduld.
Ich finde es aber von allen Beteiligten in diesem und anderen Foren aber sehr mutig, ihre Probleme anzusprechen. Ihr alle habt das Potential, und bewegt Euch in die richtige Richtung.
In diesem Sinne: Kopf hoch, redet darüber, schämt Euch nicht. Stellt Euch die Zwänge wie einen Berg und den Therapeuten/die Therapeutin wie einen Bergführer/eine Bergführerin vor... ;-)