Ja, habe ich
Ja, ich habe so etwas erlebt, und es hat sich wirklich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war Ende der 90er, als ich mit einer damaligen Freundin die Ferien bei deren Verwandten in der Toskana verbrachte. Und das, obwohl ich selbst praktisch kein Wort italienisch spreche. In der ersten Nacht konnte ich wegen der Hitze nicht schlafen und bin mit meinem Buch raus in den Garten gegangen, um im Schein der Terrassenleuchte noch etwas zu lesen. Nach einer Weile merkte ich etwas in der Nähe und meinte, dass meine Freundin vielleicht auch nicht schlafen konnte und mir ins Freie gefolgt war. Was ich sah, als ich aufblickte, naja, wie soll ich das beschreiben!?! Zwischen den Büschen stand jedenfalls eine schlanke, weibliche Gestalt in einem weißen, schulterfreien Kleid, es kann aber auch ein Tuch gewesen sein, was sie um den Leib geschlungen hatte. Ihr schulterlanges Haar war schwarz, auch ihre Haut wirkte recht dunkel und war dazu leopard-artig gemustert. Besonders irritierte mich allerdings ihr Gesicht, was dem einer Katze glich und wirklich sehr hübsch aussah. An Hals und Armen trug sie goldenen Schmuck. Ihre Hände waren die eines Menschen, und ihre Füße steckten in schmalen, dunklen Schuhen. Wie sie so da stand und mich musterte, erinnerte sie mich stark an eine altägyptische Gottheit. Aber irgendwie auch ein wenig an eine Sklavin. Ihr Blick war dabei ernst und vielleicht auch etwas traurig, aber durchaus freundlich und keineswegs bedrohlich. Der dünne Stoff ihres Gewandes schien nass zu sein und klebte an ihrer Haut, und wie ihre fleckigen Schultern im Licht der Lampe glänzten, musste ihr wohl ähnlich heiß sein wie mir. Ihr goldener Halsschmuck schien schwer und lästig zu sein, denn sie versuchte immer wieder, mit den Fingern ein wenig unter das Geschmeide zu gelangen. Auch wenn sie eine Schönheit war, die Anwesenheit dieser Tier-Mensch-Person verunsicherte mich, und in den folgenden Minuten blätterte ich verlegen in meinem Buch herum, um endlich von ihrem Anblick loszukommen. Doch immer wenn ich aufschaute, stand sie noch zwischen den Büschen und schaute mich unverwandt mit großen, dunklen Pupillen an. Erst als die Terrassentür aufging und meine Freundin erschien, war die seltsame Gestalt plötzlich verschwunden. Ich erzählte meiner Freundin davon, und sie meinte, ich wäre wohl etwas übermüdet und solle wieder mit hereinkommen. Der Rest der Nacht verlief unruhig, und beim gemeinsamen Frühstück erzählte meine Freundin etwas auf Italienisch, was ich nicht verstand. Jedenfalls schien die gesamte Familie sehr irritiert, die Mutter sagte so etwas, das sie wie „ragazza“ (Mädchen) anhörte und bekreuzigte sich immer wieder. Später fragte ich meine Freundin danach, und sie gestand, dass sie von meiner nächtlichen Beobachtung erzählt hatte, was speziell für die Mutter sehr verstörend gewesen sein musste. Ihr ältester Sohn, der Großcousin meiner Freundin, hatte demnach als kleiner Junge im Garten des Hauses oft mit einer nur für ihn sichtbaren Partnerin gespielt, welche er „la gatta“ (die Katze) genannt hatte, was ich irrtümlich als ragazza verstanden hatte. Mit neun kam der Junge durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben. Das Ganze hatte sich um das Jahr 1980 zugetragen, und seither war „la gatta“ von keinem Menschen mehr erwähnt worden. Meiner Freundin tat es natürlich leid, dass sie davon erzählt hatte, sie hatte ja nicht wissen können, welch traurige Bewandtnis es mit „la gatta“ auf sich hatte. Ein paar Tage darauf zeigte sie mir dann alte Kinderzeichnungen ihres verstorbenen Großcousins, auf denen ziemlich genau das zu sehen war, was ich in jener Nacht gesehen hatte. Auch wenn der Garten des Hauses wirklich wunderschön war, betrat ich ihn während unseres gesamten Aufenthaltes nicht mehr, auch tagsüber nicht. Unsere italienische Gastfamilie behandelte mich während der Ferien zwar weiterhin freundlich, allerdings spürbar distanzierter als am Tag unserer Anreise, was zweifellos „la gatta“ zu verdanken war. Und damit blieb es nicht nur das einzige und letzte Mal, dass ich meine Freundin zu ihren italienischen Verwandten begleitete, sondern ich bin seither auch überzeugt davon, dass Dinge existieren, für die es niemals eine logische Erklärung geben wird.